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Hayao Miyazakis entscheidend stärkste Qualität als Filmemacher war für mich immer eine ganz bestimmte Sache: Eintauchen. So klischeehaft es auch klingen mag, das Gefühl, „in die Leinwand und die Welt, die sie präsentiert, hineingesogen zu werden“, ist die treffendste Beschreibung meiner Seherfahrung mit seinen Filmen. Durch die phantastischen und aufwendigen Schauplätze, die detaillierten Entwürfe und die durchweg hochwertigen Animationen, die einzigartigen Klänge von Hisaishis Filmmusik und das dynamische Gefühl für das Tempo präsentieren sie andere Welten, die zugleich exotisch und einladend sind. Und kein anderer seiner Filme fängt diese Andersweltlichkeit so vorbildlich ein wie Spirited Away. Und warum? Weil er isekai verkörpert.
Im Gegensatz zu Miyazakis anderen Filmen findet der Eintritt in die andere Welt von Spirited Away im Film selbst statt, dargestellt durch die Erfahrungen der Protagonistin. Der Film beginnt bemerkenswert unphantastisch: Chihiro sitzt zusammen mit ihren Eltern im Auto, während sie durch eine kleine, ruhige Stadt zu ihrem neuen Zuhause fahren. Die Düsternis von Chihiro und die Stille der Umgebung fangen eine trockene Alltäglichkeit ein, weit entfernt von jeglichem Gefühl der Andersweltlichkeit. Das alles ändert sich, als wir den Durchgang zur Geisterwelt betreten. Als Chihiro durch den dunklen Tunnel geht, vollzieht sich ein Übergang vom Realen zum Fantastischen, vom Vertrauten zum Unbekannten. Sowohl sie als auch wir betreten durch sie buchstäblich eine andere Welt. Was die anfängliche Andersartigkeit dieser anderen Welt so wirkungsvoll macht, ist die Tatsache, dass Chihiro ihr genauso entfremdet ist wie wir. Als die Stadt erwacht und von schattenhaften Geistern bevölkert wird, als ihre Eltern sich in Schweine verwandelt haben, als der Weg zurück zum Tunnel mit Wasser geflutet wurde, reagiert sie wie jeder andere auch: mit Schock, Panik und nicht zuletzt mit Verleugnung – sie versucht sich einzureden, dass alles nur ein Traum ist. Sie und wir werden ohne Vorwarnung mit einem furchterregenden Anderen konfrontiert, mit dessen fremder Präsenz wir nicht fertig werden. Im Laufe der Geschichte wird Chihiro allmählich mit dieser fremden Welt vertraut und wächst ihr sogar ans Herz – aber es ist diese erste Begegnung mit dem Anderen, die den Film zu einem so eindrucksvollen Beispiel für die „Miyazaki-Immersion“ macht.
Das und eine weitere Szene. Denn dies ist nicht das einzige Mal in diesem Film, dass ein Übergang in eine andere Welt stattfindet. Das zweite Mal findet sie in Form einer Zugfahrt statt. Der kleine Zug, der regelmäßig dem Horizont entgegen tuckert, wird den ganzen Film hindurch als Hinweis auf eine Welt jenseits der Badehausstadt aufgebaut. Lin träumt davon, den Zug zu besteigen und sich von ihm weit weg von ihrem Alltag bringen zu lassen. Zugfahrkarten sind sehr selten, und Kamajii offenbart, dass er noch einige von vor vierzig Jahren übrig hat. Außerdem ist der Zug längst nicht mehr für eine Hin- und Rückfahrt gedacht, sondern nur noch für eine einfache Fahrt. Der Zug steht für exotische Zweideutigkeit; er ist eine Reise ohne Wiederkehr in Richtung des erhabenen Unbekannten auf der anderen Seite des Horizonts. So bietet uns die Zugszene eine weitere Ebene des Eintauchens, eine zusätzliche andere Welt innerhalb oder vielmehr jenseits der ursprünglichen anderen Welt.
Aber dann stellt sich die Frage: Warum die Zugszene und nicht die anschließende Ankunft in Zenibabas Haus, das eigentlich die zusätzliche andere Welt darstellt? Die Antwort liegt in ihrer Qualität als Übergang zu dem noch Unbekannten, einem Dazwischen von Ambivalenz und Unsicherheit. Miyazaki selbst hat erklärt, dass er bewusst ma in seine Filme einbaut: das japanische Konzept einer raumzeitlichen „Lücke“ oder eines „Intervalls“. Als wesentlicher Begriff in der japanischen Sprache existiert ma sowohl in der Kunst und Ästhetik als auch im allgemeinen Denken und in der Kultur. Es wird als inhärenter Teil der Natur und der Existenz sowie als zentraler Bestandteil von Kalligraphie und Malerei bis hin zu Poesie und Theater betrachtet. Im erzählerischen Sinne kann sie auf Momente zwischen den Handlungspunkten übertragen werden, die nichts zum erzählerischen Fortgang beitragen, sondern eher als Verschnaufpausen dienen. Aber wenn eine solche Verschnaufpause eine aufwendig gestaltete Szene ist, die drei Minuten Bildschirmzeit in Anspruch nimmt, wird sie zu etwas mehr.
Das Kanji für ma (間) zeigt das Zeichen für „Sonne“ (日) (ursprünglich „Mond“ (月)) unter dem Zeichen für „Tor“ (門). Es stellt also ein Ideogramm eines Sonnen- oder Mondscheins dar, der durch die Öffnung eines Tores sickert. Damit wird angedeutet, dass ma eine aktive Lücke ist, die mit ihrer Leere, einer gegenwärtigen Abwesenheit, besetzt ist und leuchtet. Immer wenn die erzählerische Handlung den Bildschirm einnimmt, ist das ma blockiert, aber sobald ein Moment der Untätigkeit eintritt, öffnet sich das Tor und lässt das strahlende Licht durch. In der Zugszene geschieht nichts von erzählerischem Wert, doch in ihrer filmischen Umsetzung vermittelt sie eine unglaublich starke emotionale und dramatische Präsenz. Ehe wir uns versehen, hat sie sich von einer Verschnaufpause zu einer eigenständigen Erzählung entwickelt. In Anlehnung an Richard B. Pilgrims Diskussion über Ozu wird die Lücke, die die erzählerische Ursache-Wirkungs-Kette unterbricht, „in den Vordergrund gerückt“, und alle erzählerischen Handlungen, die in der Lücke stattfinden, werden auf bloße „Obertöne“ reduziert. Als begeisterter Fan von Tarkovsky, Wong Kar-wai, Slice of Life (insbesondere Iyashikei) und praktisch allem, was in den Bereich des konventionellen, ereignislosen Erzählens fällt, mag ich diesen Erzählansatz sehr gern. Insofern gefällt mir dieser Aspekt der Zugszene natürlich sehr gut.
Aber es gibt noch mehr über ma in Bezug auf diese Szene zu sagen. Zum einen ist da seine Eigenschaft als raumzeitlich. Ma existiert in Zeit und Raum, nie nur in dem einen oder dem anderen, sondern immer in beiden. Im japanischen Denken sind Zeit und Raum keine getrennten Einheiten. Eine Bewegung durch den Raum ist automatisch auch eine Bewegung durch die Zeit, genauso wie die Zeit kein eigenständiges geradliniges Kontinuum ist, sondern etwas, das sich durch den Raum hindurch vollzieht. Daher ist ma niemals räumlich oder zeitlich, sondern immer raum-zeitlich. Diese Tatsache ist in der Zugszene sehr präsent; während der Zug immer weiter durch die Wasserlandschaft fährt, sehen wir, wie die Sonne untergeht und der Tag allmählich zur Nacht wird. Es handelt sich gleichzeitig um eine räumliche und zeitliche Reise, eine Bewegung von Raum und Zeit, die als Raumzeit vereint sind. Und so sind Ausgangspunkt und Endpunkt der Reise – die „Heimat“ und die andere Welt – nicht nur räumlich, sondern auch zeitlich getrennt; das eine liegt im hellen Tageslicht, das andere in der düsteren Nacht. (Interessanterweise ist diese zeitliche Trennung auch beim ersten Anderen vorhanden, wenn die Stadt erwacht und alle Geister bei Sonnenuntergang anwesend sind).
Darüber hinaus existiert ma auf zwei Ebenen: Es gibt die deskriptiv-objektive – die die Physikalität von Raum und Zeit als solche umfasst -, aber dann gibt es die erfahrungsbezogene-subjektive, d. h. die Erfahrung des Subjekts mit dem Raum. Die Redewendung ma ga warui bedeutet beispielsweise „das ma ist schlecht“ und wird verwendet, um ein Gefühl des Unbehagens in einer bestimmten Situation oder Umgebung auszudrücken. Um diese Nuancen zu berücksichtigen, übersetzt Günter Nitschke ma mit „Ort“ statt mit „Raum“. Denn ma hat nicht nur mit dem physischen Raum zu tun, sondern auch mit der Beziehung, die man zu diesem Raum hat, da man in ihm situiert ist. Und eine solche Situiertheit umfasst zweierlei: das Bewusstsein der formalen Beziehung zwischen Objekt und Raum (d.h. die objektive Ebene) und das imaginative Gefühl, das durch das Erleben dieser Beziehung entsteht (d.h. die subjektive Ebene).
An welchem „Ort“ befinden wir uns also an Bord des fahrenden Zuges? Zum einen ist es ein sich ständig bewegender Ort, und als solcher ein Ort der Verunsicherung in seiner Unstetigkeit. Zum anderen ist der Raum, durch den er sich bewegt, ein Ort der Trostlosigkeit, der Weite und nicht zuletzt der Rätselhaftigkeit. Die stille Wasserlandschaft scheint sich ins Unendliche zu erstrecken, ihre Leere wird nur spärlich von ein paar kleinen, einsamen Häusern eingenommen. Alle Fahrgäste erscheinen als gesichtslose und stumme Schatten, wie Gespenster einer fernen Erinnerung. Selbst das Gesicht und die Stimme des Zugführers sind nicht zu sehen und zu hören. Wir sind umgeben von völlig unbekannten und rätselhaften Anderen in einer weiten und fremden Welt. Dabei handelt es sich jedoch nicht um ein konfrontatives Anderes wie zu Beginn des Films, sondern vielmehr um eines, das die Existenz eines Anderen außerhalb unserer eigenen Wahrnehmung bedeutet. Und damit kommen wir zum wichtigsten Aspekt des Ortes, nämlich dass er eine Bewegung auf etwas hin ist. Der Kern der Andersartigkeit der Zugszene liegt in der Erwartung und Ungewissheit des noch Unbekannten. Wenn der Anfang des Films eine unmittelbare Begegnung mit dem Anderen einfängt – mit dem Lovecraftschen Unbekannten, das plötzlich vor unseren Augen auftaucht -, dann fängt die Zugszene das Andere als das ein, was noch zu erreichen ist, als etwas Jenseitiges, dort draußen.
Dies wird durch die anschließende Ankunft am Zielort noch unterstrichen. In dem Moment, in dem unsere Figuren aus dem Zug aussteigen und die andere Welt betreten, verschwindet ein wesentlicher Teil ihrer Andersartigkeit. Das Unbekannte wird plötzlich bekannt – sicherlich nicht sofort vertraut, aber dennoch bekannt, erfasst, erreicht. Als sie Zenibaba in ihrem Abteil treffen, entpuppt sie sich nämlich als eine völlig harmlose und sogar gutherzige alte Dame. Die Bedeutung des anderen war nichts, worüber man sich aufregen musste.
Die Zugszene zeigt uns also, dass die Reise manchmal viel stärker ist als das Ziel. In der Szene geht es um das ambivalente Dazwischen, wo man losgefahren ist, aber noch nicht angekommen ist, wo sowohl die Heimat als auch das Ziel unerreichbar sind. Es ist eine tote Zone, ein Zwischenraum von intensiver Reibung. Darin liegt das Vermissen dessen, was man zurückgelassen hat, und die Angst vor dem, was noch kommen wird. Und so ist es die Kombination des Gefühls der Andersartigkeit mit den Eigenschaften von ma, durch die die Zugszene schließlich ihre Kraft erlangt. Es ist eine „Lücke“ erzählerischer Leere, eine raumzeitliche Betrachtung des eigenen physischen und erfahrungsmäßigen „Ortes“ – während besagter „Ort“ ein Ort der Verdrängung und des Unbehagens über die Abwesenheit der Heimat und die dazwischen liegende Anwesenheit des Anderen ist.
Spirited Away hat einen besonderen Platz in meinem Herzen. Es war nicht nur meine erste Begegnung mit Miyazaki und Ghibli, sondern auch meine erste Begegnung mit Anime im Allgemeinen (d. h. Anime, der als etwas Eigenständiges anerkannt wird und nicht nur ein Teil von Zeichentrickfilmen am Samstagmorgen ist). Auch wenn es vielleicht nicht mein Lieblingsfilm von ihm ist, so ist seine Zugszene für mich zweifellos sein fesselndstes Werk. Sie ist diejenige, die am besten die filmische „Miyazaki-Magie“ einfängt, indem sie wirklich ein kontemplatives Eintauchen in eine andere Welt heraufbeschwört.
Ebert, Roger, „Hayao Miyazaki interview“, 2002, <http://www.rogerebert.com/interviews/hayao-miyazaki-interview>
Nitschke, Günter, „Ma – Ort, Raum, Leere“, Von Shinto bis Ando: Studien zur architektonischen Anthropologie Japans, Akademie Verlag Ernst & Sohn, 1993 <http://www.east-asia-architecture.org/downloads/research/MA_-_The_Japanese_Sense_of_Place_-_Forum.pdf>
Pilgrim, Richard B., „Intervals (‚Ma‘) in Space and Time: Foundations for a Religio-Aesthetic Paradigm in Japan“, History of Religions, vol. 25, no. 3, 1986, S. 255-277